Das Geheimnis der Regenbogenbrücke


Die Regenbogenbrücke

„Komm, setz dich zu mir. Das ist das Buch, das das Leben schrieb… so nennt das jedenfalls Frau Ober-Engel immer…“ 

Angie verdrehte die Augen. „Meine Güte, macht die sich immer wichtig, wenn sie uns daraus vorliest.“

 

Sie blätterte ein wenig darin herum. Jake sah viele wunderschöne Zeichnungen. Angie tippte auf ein Bild und wurde ganz aufgeregt: „Hier, das wollte ich dir zeigen!“

Jakes Blick fiel auf eine Brücke, die in allen Farben schillerte und über einen Regenbogen zu führen schien.

 

„Das ist meine absolute Lieblingsgeschichte… und weil das Leben sie schrieb, ist sie natürlich auch wahr! Komm, ich lese sie dir vor!“


Sie wirkte auf einmal sehr ernst. Und schon begann sie mit ihrer glockenhellen Stimme zu lesen:

 

Auf einer Seite des Himmels gibt es einen Platz, der Regenbogenbrücke genannt wird. Wenn ein Tier stirbt, das jemandem besonders nahe stand, begibt es sich zur Regenbogenbrücke. Dort sind Wiesen und Hügel für all unsere besten Freunde,

so dass sie zusammen laufen und spielen können. Dort gibt es Futter, Wasser und Sonnenschein im Überfluss, und unsere Freunde haben es warm und fühlen sich wohl und behaglich. Alle Tiere, die krank und alt waren, haben wieder ihre Gesundheit und Energie. Die, die verletzt oder verstümmelt waren, sind wiederhergestellt und stark, so wie wir sie in Erinnerung haben. Die Tiere sind glücklich und zufrieden… bis auf eine Kleinigkeit. 

Sie alle vermissen ihren Menschenfreund, den sie zurücklassen mussten.

Sie laufen und spielen zusammen, aber der Tag kommt, an dem eines plötzlich stoppt und in die Ferne sieht.

Seine strahlenden Augen sind aufmerksam, gespannt zittert der Körper.
Plötzlich beginnt es von der Gruppe wegzulaufen, fliegt über das grüne Gras, seine Beine tragen es schneller und schneller.

Es hat den Menschenfreund gesehen, den es geliebt hat und wenn sie sich endlich wieder treffen, werden sie im freudigen Wiedersehen so zusammenhalten, auf dass sie nie wieder getrennt werden. Glückliche Hundeküsse regnen auf das Menschengesicht und die Hände des Menschen liebkosen wieder den geliebten Kopf. Und der Menschenfreund sieht einmal mehr in die vertrauensvollen Augen seines Lieblings, welcher zwar lange aus seinem Leben, aber nie aus seinem Herzen verschwunden war.

 

Angie legte eine bedeutungsvolle Pause ein, bevor sie den letzten Satz vorlas:

 

Dann gehen sie zusammen über die Regenbogenbrücke.“

 

Jake sagte noch immer kein Wort, saß nur still da, sein Blick glitt über die endlose Weite der Wolkendecke und verharrte am Horizont.


Während sie schweigend nebeneinander im Gras lagen und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, entstand auf der Wiese plötzlich ein Tumult. Aufgeregtes Gebell kündigte etwas Unheilvolles an. Es klang wirklich sehr beunruhigend… verwirrt und verunsichert zugleich. Die Sonne verdunkelte sich, alles schien plötzlich grau, dunstig und trostlos.

Auch Jake und Angie sprangen besorgt auf, um zu sehen was hier vor sich ging.

Alle Hunde liefen zum Pfad, der zur Regenbogenbrücke führte.

So schnell sie nur konnten, rannten auch die beiden Freunde dorthin und nun sahen sie ihn… ein großer, alter Hund näherte sich der Regenbogenbrücke. Angie und Jake konnten an seinem schlurfenden, schwerfälligen Gang ganz deutlich erkennen, dass ihm das Wunder der Regenbogenbrücke nicht zu Teil geworden war: Er war immer noch alt, krank und kraftlos.

Ein Blick in seine traurigen Augen ließen die beiden den Schmerz und die Trauer fühlen, die in ihm wohnten.

Er schaute langsam in die Runde und man konnte förmlich seine Gedanken spüren: Das war kein Ort für ihn zum Bleiben…

er war anders… Er musste über diese Brücke gehen, erst dann würde alles besser werden. Das wusste er genau.

Also setzte er einen Fuß auf die Regenbogenbrücke und wollte gerade hinübertreten, da stand ein Engel vor ihm und verwehrte ihm den Weg.


„Frau Ober-Engel!“, platzte Angie ungläubig heraus. Sie schauten sich erstaunt an und hörten, wie Frau Ober-Engel sanft und entschuldigend zu ihm sprach:


„Mein lieber Freund, ich kann leider so gar nichts für dich tun. Dies ist die Regenbogenbrücke und hier darf nur derjenige hinübergehen, der einen Menschen auf der Erde hat, mit dem er über alle Maße eng verbunden ist. Erst wenn dieser Mensch hier erscheint, ist es Zeit für beide gemeinsam die Brücke zu überschreiten. Es tut mir so leid für dich, mein alter Freund!“


Der alte Hund wendete sich ab und ging müde durch die endlosen Reihen der anderen Hunde.


„Aber eigentlich bin ich ja noch gar nicht fertig... Ich habe da noch ganz was Wichtiges zu erledigen!“, hörte er noch und schon war sie in den Wolken verschwunden. Einen kurzen Augenblick später erschien sie mit dem dicken Buch im Schlepptau, das sie so sehr liebte. Und sie hatte auch ihre Stifte mit dabei.

 

„Das Kapitel haben wir zwar schon erlebt, aber geschrieben ist es noch nicht!“

 

So saßen sie auf ihrer Regenbogenwiese und schauten der untergehenden Sonne dabei zu, wie sie ihre Farben ausgoss auf alle Pflanzen und Tiere am Fuße der Regenbogenbrücke. Und Angie schrieb und schrieb und las ihm immer wieder ihre Gedanken vor. Frau Ober-Engel sah ihnen dabei zu und sprach kein Wort. Nur einmal erhob sie ihre Hand und tippte zart einen besonders farbenfrohen Schmetterling an, der an ihnen vorbeiflog, und sagte dabei:

 

„Manchmal gewährt uns Gott kleine Einblicke, damit wir unseren Weg finden können…“

 

Und in diesem Moment konnten Angie und Jake etwas sehen, was eines Tages einmal geschehen würde, hier am Fuße der Regenbogenbrücke:

 

Jake spielte gerade mit seinen Hundefreunden auf der Wiese Fangen, als er urplötzlich gespannt stehen blieb und seine Nase in den Wind hielt. Seine Augen glänzten erwartungsvoll und er flog in Windeseile über die Wiese… seinem Menschen entgegen: Seine Jenny war angekommen! Jenny schaute ihm in die Augen und tätschelte ihn liebevoll, Jake schenkte ihr hunderte von

Hundeküssen und dann schritten sie gemeinsam über die Regenbogenbrücke. Ihnen folgten Donny und all die anderen Hunde, denen Jenny in ihrem Leben eine zweite Chance gegeben hatte… und ganz am Ende reihten sich all die verlorenen Hundeseelen ein, denen auf der Erde niemand mehr hatte helfen können und die sehnsüchtig auf diesen besonderen Tag gewartet hatten.

Angie schaute ihren Jake liebevoll an, als sie den letzten Satz ihres Kapitels vorlas:

 

„Und immer wenn fortan ein Mann oder eine Frau an der Regenbogenbrücke ankommen, die ihr ganzes Leben damit verbracht haben, Tieren zu helfen, wird ihnen ein letzter Akt der Barmherzigkeit gewährt. Sie dürfen all die armen Tiere über die Brücke begleiten, denen sie auf der Erde nicht mehr helfen konnten.

 

Denn alle Tiere sind für sie besonders, so wie sie besonders sind für alle Tiere.“